1. Einleitung

Ein wesentliches Charakteristikum, das die British Cultural Studies kennzeichnet, ist das Interesse an der Beschreibung der Lebensweisen der Menschen (bzw. der spezifischen Gruppen unter ihnen) im eigenen Land.

Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich die meisten (britischen) Anthropologen mit der Untersuchung "exotischer" (vorwiegend afrikanischer) Kulturen. Fremde Lebens- weisen wurden, weil sie für die Forscher eben fremd, exotisch und unbekannt waren als interessant gehandelt und - diesem Interesse folgend - ausführlich beschrieben. Aus der Sicht der (wissenschaftlichen) Kulturbeschreibung bewirkte diese Tradition (= die Beschreibung sehr fremder Kulturen), daß die eigene, bekannte Kultur als gegeben, normal und zur Beschreibung (zu) wenig aufregend angesehen wurde.

Dieser wissenschaftlichen Sichtweise von Kulturbeschreibung entgegen entwickelten sich die alltäglichen (kulturellen) Verhältnisse: Durch Krieg, Völkerwanderung und Kolonialisierung wurden Menschen aus ihrem "eigentlichen" Lebensraum in andere, neue Gebiete (Länder) vertrieben und/oder angesiedelt. Diese Flüchtlinge/Siedler brachten ihre Kultur (und Lebensgewohnheiten) mit, die sie in ihrer neuen Heimat ausübten bzw. adaptierten. Dies führte dazu, daß einerseits die eigentlich exotische, fremde, interessante Kultur plötzlich im - für die Forscher - eigenen Land vorzufinden war, andererseits bei der Beschreibung(1) der eigenen Kultur jene Frage zunehmend relevant wurde, was eigentlich die "eigene" (= normale, gewohnte, alltägliche) Kultur ist. Die bemerkbaren Unterschiede der "fremden" Kultur zur "eigenen" machten demnach in weiterer Folge auch die eigene zur "interessanten" (und "exotischen").(2)

Die Tradition der Untersuchung der eigenen Alltagskultur im englischen Sprachraum ist mit jener im deutschen wenig vergleichbar. Ein Grund dafür ist, daß durch die Auswirkungen des deutschen Idealismus am Ende des vorigen Jahrhunderts und vor allem durch jene der Zeit des Nationalsozialismus die - für die Beschreibung der eigenen Kultur eigentlich relevanten - spezifischen Wörter (wie z.B. "Volkskultur" und "Volkstradition") heute überwiegend nationalistische(3) Bedeutungen konnotieren.

Die Bedeutung des Begriffs ,,Alltagskultur" wird im Rahmen der Cultural Studies nicht im Gegensatz(4) zu jener Bedeutung gesehen, die wir üblicherweise mit "Kultur" verbinden. Im Grunde macht es zudem wenig Sinn, diese beiden Begriffe von einander zu trennen. Mit "Kultur" wird zwar oft dezidiert (und ausschließlich) "hohe" Kultur (wie z.B. das Schauspiel, die Malerei und die Literatur) gemeint, beide Rahmenbedingungen von Kultur - der "Alltag" und der "Nicht-Alltag" - sind jedoch weder im Forschungsfeld noch bei ihrer Beschreibung voneinander unabhängig. Alltagskultur ist jene Ausprägung in unserer Kultur(5), zu der wir nicht eigens hingehen müssen, um sie zu erleben: In der Alltagskultur sind wir und entkommen ihr - wenn wir dies wollen und/oder versuchen - auch nur sehr mühsam.(6)

Mit dieser Sichtweise von (Alltags-)Kultur versuchen die Forscher der Cultural Studies das aktive, individuelle Gestalten der einzelnen teilhabenden Personen verstärkt zu berücksichtigen. "Individuelle" Gestaltung des Alltags (im Rahmen beschreibbarer Konventionen) bedeutet "individuell verschieden" (zu den Formen des Alltags anderer Personen). Die Beschreibung von Alltagskultur ist daher immer (nur) eine Beschreibung einer konkreten Form vieler möglicher (verschiedener) Formen von "Alltagskulturen". Bei deren Beschreibung/Interpretation kann man nicht von vorne herein annehmen, daß die beobachtbaren kulturellen Formen und Bedeutungen für viele oder alle Teilnehmer eines bestimmten Geschehens in gleicher Weise gelten.(7)

1. der Begriff "Beschreibung" (der eigenen Kultur) ist hier auch als ein Versuch der Bestimmung (der eigenen Kultur) zu verstehen

2. der Umstand, daß die eigene Kultur so normal ist (bzw. als normal wahrgenommen wird), täuscht allein im Alltag oft genug darüber hinweg, daß sie (nicht nur für/auf einen Fremden) auch "exotisch" oder eigenartig wirken kann

3. "nationalistisch" in diesem Zusammenhang als abwertender, negativ besetzter Begriff

4. in dieser Arbeit sind eventuell vorhandene Stereotypen zu den Bedeutungen des Begriffs "Kultur" wohl nicht zu vermeiden aber "intendiert ungewollt"

5. Kultur hier in der Bedeutung von "Gesamtheit der menschlichen Lebensformen"

6. jeder Reisende wird im Ausland (allein oft aufgrund seiner alltäglichen Gewohnheiten) sofort als Tourist entlarft, auch wenn er sich wie ein Einheimischer (ver)kleidet

7. vgl. dazu auch den Unterschied zwischen dem "qualitativen Forschungsparadigma" (bei dem man einen bestimmten, komplexen Zusammenhang an wenigen - jedoch konkreten - Einzelfällen genau untersucht und deshalb in weiterer Folge auch kein (besonders großes) Interesse am abstrakten Durchschnitt der beschriebenen Datenwerte entwickelt) und dem "quantitativen" (innerhalb dessen man im wesentlichen die Erfassung großer Datenbereiche verfolgt, bei deren Auswertung und Interpretation überwiegend die Zusammenhänge - wie z.B. mit Durchschnittswerten - zwischen den erhaltenen Daten beschrieben werden)